Telefonseelsorge

Vermehrt Angstzustände, Depressionen und Suizidgedanken.
Telefonseelsorge der rheinischen Kirche stark nachgefragt.

Im Jahr 2020 haben deutlich mehr Menschen die Telefonseelsorge kontaktiert als im Jahr zuvor. Dabei hat die Corona-Pandemie die Sorgen und Ängste verstärkt. Pfarrer Volker Bier, evangelischer Leiter der Telefonseelsorge Saar, spricht gar von einer „gesellschaftlichen Grunderkrankung Einsamkeit“. Und: Vor allem junge Menschen äußern Suizidgedanken.

Die Zahlen für die 20 Telefonseelsorge-Standorte auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland für das Jahr 2020 lassen aufhorchen: Ein Plus von 35 Prozent auf 6426 Chat-Gespräche im Vergleich zu 2019, zudem ein starker Anstieg bei der E-Mail-Seelsorge (+28 Prozent auf 10.402). Hinzu kommen 1207 Vor-Ort-Gespräche (2019: 786) und 227.328 Anrufe (2019: 229.318). Das geht aus der nun veröffentlichten Statistik für 2020 hervor. „Vor allem während der Lockdowns waren die Seelsorge-Telefone stark frequentiert“, weiß Pfarrer Volker Bier, evangelischer Leiter der Telefonseelsorge Saar.

Einsatzbereitschaft der Mitarbeitenden ermöglicht Gespräche-Plus
Dass so viele Menschen die Telefonseelsorge kontaktieren konnten, liegt vor allem an der Einsatzbereitschaft der Mitarbeitenden während der Corona-Pandemie. „An vielen Stellen haben wir die Besetzung verdoppelt und Dienstzeiten ausgeweitet, so dass wir mehr Telefonanrufe, Mails oder Chat-Nachrichten beantworten konnten“, berichtet Bier über die Lage der Telefonseelsorge in der gesamten rheinischen Kirche. Zudem hätten weniger Anrufende geschwiegen oder schnell wieder aufgelegt. „Somit stieg auch der Anteil der Anrufe, bei denen es tatsächlich zum Gespräch kam.“

„Bei uns melden sich die Ärmsten der Armen“
Die Zahl der Erstgespräche per Telefon ist laut Statistik um 2,5 Prozent gestiegen. „Insgesamt haben im vergangenen Jahr also mehr als 5600 Menschen auf dem Gebiet der rheinischen Kirche zum ersten Mal angerufen“, sagt Bier. Mehr als 60 Prozent aller Anrufenden würden schließlich mehrmals zum Hörer greifen. Und: Im Durchschnitt klingele an jeder Telefonseelsorge-Stelle täglich 31 Mal das Telefon. All das verdeutliche den gesellschaftlichen Stellenwert der Telefonseelsorge, der sich nicht betriebswirtschaftlich bemessen lasse. „Bei uns melden sich die Ärmsten der Armen, und zwar nicht in finanzieller Hinsicht.“ Vielmehr würden sie von der Gesellschaft übersehen und nicht gehört. „Für diese Menschen ohne Stimme sind wir ein wichtiger anonymer Ansprechpartner.“

Themen und Klientel abhängig vom Medium
Die vorgebrachten Themen (Mehrfachnennungen sind möglich) und die Klientel sind laut Bier abhängig vom Medium. Im Bereich Mail-Seelsorge zeigt die Statistik für 2020 etwa beim Thema Depression einen Anstieg um rund 7,5 Prozentpunkte. In den Vor-Ort-Gesprächen hat das Thema Suizidalität gar um 20,3 Prozentpunkte zugenommen. „Am Telefon, über das uns überwiegend 40- bis 60-Jährige kontaktieren, darunter viele Frauen, ist eine Zunahme bei Ängsten um 2,5 Prozentpunkte zu verzeichnen“, erläutert Bier.

Corona-Pandemie rückt erst im zweiten Lockdown in Fokus
Zudem habe es im Laufe des Jahres eine große Veränderung hinsichtlich Corona gegeben. Denn die Pandemie ist laut Bier erst im Laufe des zweiten Lockdowns in den Vordergrund getreten. „Zuvor diente Corona eher als Einstieg für tieferliegende Themen wie Einsamkeit oder Isolation.“ Mittlerweile gehe es im Schnitt bei jedem zehnten Anruf um Corona selbst. Gleichzeitig seien die Probleme, die Corona direkt auslöse und verursache – also nicht nur verstärke – gestiegen. „Einsamkeit ist aber das beherrschende Thema am Telefon, eine Art ,Grunderkrankung‘ unserer Gesellschaft“, betont Bier. Diese beschäftige während der Pandemie zunehmend auch die jüngeren Menschen.

14- bis 29-Jährige äußern häufig Suizidgedanken
Die 14- bis 29-Jährigen nutzen zur Kontaktaufnahme vor allem den Chat. „Neben Angst, Gewalt und Selbstverletzung ist Suizidalität in dieser Gruppe mit knapp 40 Prozent das mit Abstand wichtigste Thema“, weiß Bier. Ähnliches gelte für die Mailkontakte. Hier sei Suizidalität in 30 Prozent der Kontaktaufnahmen der meist nur wenig älteren Menschen ein Thema. Zudem liege bei rund 40 Prozent der Kontaktsuchenden im Chat eine diagnostizierte psychische Erkrankung vor – ein Plus von 15 Prozent im Vergleich zu 2019. „Ein irritierender und erschreckender Einblick in die Lebenswelt von jungen Menschen heute“, sagt Bier.

20 Telefonseelsorge-Stellen ausgewertet
Für die Statistik wurden die Daten der 20 Telefonseelsorge-Stellen erfasst, die auf dem Gebiet der rheinischen Kirche liegen: Wesel, Oberhausen, Mülheim-Duisburg, Essen, Düsseldorf, Wuppertal, Neuss, Solingen, Krefeld, zwei Mal Köln, Düren, Bonn, Oberberg, Aachen, Bad Neuenahr-Ahrweiler sowie Trier, Bad Kreuznach, Saarbrücken und Koblenz. Dort arbeiten 1408 Ehrenamtliche, darunter 1067 Frauen. Im Bereich Mail-Seelsorge sind 148 Mitarbeitende tätig, im Bereich Chat 63. Begleitet werden sie von 40 hauptamtlich Mitarbeitenden. 16 der 20 Standorte sind der rheinischen Kirche hauptamtlich verbunden, hinzu kommen zwei rein katholisch sowie zwei ehrenamtlich betreute Stellen.

Stichwort: Die Telefonseelsorge
Die Telefonseelsorge ist ein Netzwerk mit mehr als 100 regionalen Stellen in ganz Deutschland. Menschen in seelischen Notsituationen können sich anonym und kostenfrei 24 Stunden am Tag unter den Telefonnummern 0800 1110-111 oder -222, online per Chat oder E-Mail sowie persönlich vor Ort an die Mitarbeitenden wenden. Organisiert wird das Ganze von der Evangelischen sowie Katholischen Kirche in Deutschland. Die rheinische Kirche ist an 16 Orten hauptamtlich beteiligt.

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Einsamkeit und Zukunftsängste: Auch junge Menschen suchen Seelsorge.
Die Corona-Pandemie sorgt mehr Nachfrage etwa an Schulen
„Die Herausforderungen für die Seelsorge unter Pandemiebedingungen sind groß, aber sie hat neue Formen gefunden und Wege, gute Angebote zu machen.“ Dieses erste Fazit zog Kirchenrat Jürgen Sohn, Leitender Dezernent für Seelsorge im Landeskirchenamt, bei einem Pressegespräch der Evangelischen Kirche im Rheinland zum Thema „Corona und Seelsorge“. Im Fokus standen dabei vor allem die Pandemiefolgen für die jungen Menschen.

So hätten sich beispielsweise die Anfragen bei der Schulseelsorge explosionsartig um etwa ein Drittel erhöht, berichtete die zuständige Landespfarrerin Sabine Lindemeyer. Die rund hundert zu Schulseelsorgerinnen und -seelsorgern fortgebildeten Religionslehrkräfte und etwa 310 Pfarrerinnen und -pfarrer an den staatlichen Schulen haben kreative Wege gefunden, dieser gestiegenen Nachfrage auch unter Coronabedingungen nachzukommen: vom „Walk to talk“-Spaziergang und Seelsorge-Gesprächen mit Abstand auf der Bank über den Austausch per digitaler Plattform der jeweiligen Schule bis hin zu Podcasts und Videos. Sogar ein Seelsorgehund befindet sich derzeit in der Ausbildung und wird dann an einer Realschule zum Einsatz kommen.

Digitale Seelsorgeformate erreichen auch schüchterne Schüler
Ein möglicher digitaler Weg, Erfahrungen von Tod und Sterben unter den jungen Menschen seelsorglich zu begegnen, ist die Einrichtung eines Online-Kondolenzbuchs in Kombination mit dem Anbieten von Gesprächsräumen. „Beziehung ist das Hauptwort der Schulseelsorge“, sagte Lindemeyer. Die neuen digitalen Formen hätten dabei auch schüchterneren Kindern und Jugendlichen den Zugang zur Seelsorge ermöglicht, die eine direkte Begegnung eher scheuten. Erschrocken zeigte sich die Landespfarrerin von der wachsenden Bedeutung des Suizid-Themas während der Pandemie. Einsamkeit und fehlender Kontakt zur eigenen Altersgruppe führten zu psychischen Schwierigkeiten, die durch die Schulseelsorge aufgefangen werden müssten. Lindemeyer rechnet daher für die Zeit nach der Pandemie mit einer weiteren großen Welle an Anfragen. Ab dem 1. Oktober soll ein schulübergreifendes Chatangebot an den Start gehen, um auch Schulen ohne eigene Seelsorgekräfte zu unterstützen. Lehrkräfte, die sich für die Seelsorgefortbildung interessieren, können am 28. August an einer Orientierungsveranstaltung teilnehmen.

Studierende haben Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung
Die fehlende Abnabelung vom Elternhaus beobachtet Pfarrerin Christiane Neufang (Evangelische Studierendengemeinde Köln) unter den Studierenden mit Sorge. Viele zögen vom Wohnheim wieder zurück ins Elternhaus, um der Einsamkeit zu entkommen. „Es fehlt auch die Identitätsfindung. Wie fühlt es sich an, Student oder Studentin zu sein, wenn ich gar nicht erlebe, mich in der Mensa zu verabreden?“ Gerade unter Erstsemestern seien daher vermehrt Studienabbrüche zu erleben. „Die Studierenden lechzen und sehnen sich nach analogen Begegnungen.“ Zum Glück biete das Kölner Studierenden-Wohnheim genug Platz, um auch analoge Gesprächsangebote zu machen.

Offen für Menschen unabhängig von Religion und Herkunft
Gemeinsam ist Schülerinnen, Schülern und Studierenden eine verbreitete Sorge um die Zukunft. Aber es gibt auch Mut machende Beispiele für gegenseitige Solidarität: So wurden an Corona erkrankte Bewohner des Kölner Wohnheims während Erkrankung und Quarantäne von der gesamten Etage versorgt. „Und wir haben begleitend die Psychohygiene übernommen“, erzählte Neufang. Für alle Seelsorgebereiche gilt: Sie sind offen für Menschen unabhängig von ihrer Konfession, Religion und Herkunft. Und sie arbeiten darauf hin, dass am Ende des Seelsorgegesprächs der Satz steht: „Dich hat der Himmel geschickt.“ Denn kirchliche Seelsorge, so Jürgen Sohn, müsse gerade vor dem Hintergrund der Missbrauchs-Skandale Vertrauen zurückgewinnen. Das werde nur durch eine dienende Haltung erreicht, bei der Menschen Unterstützung und Begleitung ohne das Verfolgen eigener Interessen erfahren.

Hinweis an die Redaktionen: Einen deutlichen coronabedingten Anstieg der Nachfrage belegt auch ein Blick auf die Zahlen der Telefonseelsorge.

Stichwort: Seelsorge
Seelsorge ist eine zentrale Aufgabe der Kirche. Sie wird von allen Pfarrerinnen und Pfarrern sowie von dafür ausgebildeten und beauftragten ehrenamtlich Mitarbeitenden angeboten. Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten absolut vertraulich und unterliegen einer besonderen Pflicht zur Verschwiegenheit. Die Seelsorge-Ausbildung ehrenamtlich Mitarbeitender in beinahe allen Seelsorgefeldern ist in den vergangenen Jahren zunehmend professionalisiert worden.